Portrait Kurt Werner Sänger

Unsere Reihe „Portrait“ präsentiert Fotografinnen und Fotografen, die uns durch bemerkenswerte Bilder aufgefallen sind. Hier berichtet Kurt Werner Sänger, wie er zur Fotografie gekommen ist, über seine Entwicklung, seine Motive, seine Lehrmeister. Wichtig dabei ist für ihn der Blick hinter die Kulissen. Seine Devise heißt: Hinschauen!

 


Portrait Kurt Werner Sänger
Notizen eines alten Lokalreporters
Zur Fotografie bin ich mit zwölf Jahren gekommen. Ein Nachbar in unserem kleinen Dorf hatte bei Leitz in Wetzlar den Beruf des Feinmechanikers und Technikers erlernt. Mit einem Reparaturladen für defekte Haushaltsgeräte hatte er sich einen kleinen, zuträglichen Nebenerwerb geschaffen. Aber seine Leidenschaft galt der Fotografietechnik. Er baute sich seine Kameras selbst und entwickelte skurrile Objektivkonstruktionen. Oft besuchte ich ihn in seiner Werkstatt, die stets aus der Dunkelkammer heraus nach Fotochemikalien roch und in ein rotes Licht getaucht war.

Dieses Hexenhandwerk wollte ich auch erlernen. Zu Weihnachten bekam ich eine AGFA-Box geschenkt. Ein schwarzer Kasten mit zwei symbolischen Blendenschiebern zwischen Wolke und Sonne. Ich fotografierte alles, was sich mir anbot: Hühner und Kühe, Oma und Opa, meine elektrische Eisenbahn, das Aquarium in der Schule und unsere Ziege namens Gloria sowie die kugelrunde Tante Erna aus Eibelshausen mit ihrer ebenso kugelrunden BMW Isetta. Nur der Spaß hatte bald ein Ende. Die Rollfilme wurden meinen Eltern zu teuer. Und der Nachbar hatte immer weniger ein Einsehen, mir hilfreich zur Seite zu stehen. Ich sollte etwas „Anständiges“ lernen und ging zur Post.

Fotografische Lehrjahre
Jahre später, als ich meine Lehre bei der Post beendet und erstes Geld verdient hatte, kaufte ich mir eine Kleinbildkamera, eine DIAX, und richtete mir in der alten Milchkammer der zwischenzeitlich aufgegebenen Landwirtschaft mit einem DURST-Projektor ein Schwarzweiß-Labor ein. Es war Kirmes im Dorf. Der Nachbar war verstorben. Aber ich sollte nicht lange ohne fotografischen Lehrmeister bleiben. Ein Lokalreporter wurde während des Festumzuges auf mich aufmerksam. Wir lernten uns näher kennen. Er gab mir zwei fotografische Lehren mit auf den Weg: Jede Kamera sei so gut wie das Auge hinter ihr, versicherte er mir, denn ein Maler – um im Bild zu bleiben – beschimpfe ja auch nicht den Pinsel, wenn ihm ein Bild misslinge, und ein Reporter habe sein Motiv in dem Augen-Blick verloren, sobald er innerhalb seines eigenen Publikums auffalle. Weisheiten, die ich bis heute beibehalten habe.

Sehen lernen
Ich lernte das Sehen und die Geduld des Wartens auf den richtigen Moment. War ich als Fotograf bisher zugleich Teil des Geschehens, so trat ich aus dem Umfeld meiner Protagonisten heraus. Ich wurde zu deren Zuschauer und das kleine Dörfchen zur Freilichtbühne in einer Umkehr der Wahrnehmung. Ein Perspektivenwechsel. Tante Erna platzierte ich nunmehr in ihrer offenen Isetta, danach ihre Leibesfülle mit dem kugelrunden Chassis der Isetta in ein Ganzes verschmolz. Dies war wohl mein erstes sozialdokumentarisches Foto. Ein Skandalbild, das sich wohltuend von den üblichen Lieschen-Müller-Knipsbildchen abhob. Heute zum größten Teil verschollene Bilder wie auch die Negative.

Ich wurde nach Frankfurt versetzt. Es war die Zeit der Studentenproteste. Mir war es vom Motiv her zunächst egal, einen Kirmesfestzug oder eine Demonstration zu fotografieren – bis mir die Pflastersteine um die Ohren flogen und meine DIAX im Strahl eines Wasserwerfers der Polizei klitschnass absoff. Eine neue Kamera fand ich beim Foto Brell in der Kaiserstraße, eine gebrauchte Nikon FM, zusätzlich ein Metz-Blitz. Diese Kamera hat mich bis Ende der 1980er Jahre begleitet. Nach Studienzeiten und Jobs in der Sozialarbeit – den Postbeamtenjob hatte ich an den Nagel gehängt – und nach Wohnortwechsel in die Wetterau wurde ich Zeitungsreporter, anfangs mit einer analogen Nikon 90 danach mit einer digitalen D 3000.

Lokalreporter in der Kleinstadt
Im fotografischen Eifer beflügelt, musste ich jedoch herbe Endtäuschungen einstecken. Nicht nur wegen der Bildhonorare zwischen 8,50 Euro und 14,50 Euro bei einem Zeilenhonorar von 15 Cent. Von Lebensunterhalt ist da nicht die Rede. Meine Ideen waren nicht verlangt. Gefragt war nicht das kritische Bild. Die Leute waren und sind oft potentielle Abonnenten und Leser der Zeitung. Ebenso bestimmten die Nähe zur Lokalpolitik und lokalen Wirtschaft des Handwerks und der örtlich ansässigen Unternehmen die Interessen an „wohlfeilen“ Bildern. Nicht selten wurden Pressemitteilungen unrecherchiert übernommen, stand der Lokalreporter im Dauerkonflikt zwischen eigenem Anspruch und Hofberichterstattung. Prekär wurde das Ganze, wenn die Lokalzeitung zugleich als Herausgeberin von kostenlosen Werbeblättchen der Anzeigenabteilung fungierte und der Fotograf nur noch zur Bildstaffage einer schon vorgefertigten Reportage anrückte. Und heute? Im Zuge der Konzentration und dem Abbau der Stellen in den Medienhäusern bei drastisch sinkenden Auflagen in Konkurrenz zu den IT-Medien eher der Normalfall.

Es war und ist das Bedürfnis der Leute eines überschaubaren Gemeinwesens einer Kleinstadt oder eines Landkreises, so fotografiert zu werden, wie sie sich selbst in der Zeitung sehen wollen mit entsprechendem Unterhaltungswert. Ehre und Anerkennung, Konkurrenz und Neid bestimmen die Motive. Weniger die Nachrichten. Ein Reporter, der diese Bauchpinselei versteht, erlangt Vorteile, wenn er sich deren Interessen selbst zu eigen macht. Entsprechend verlangen die Jahreshauptversammlungen der Vereine, die Faschingssitzungen im Bürgerhaus oder die Übungen der Freiwilligen Feuerwehr ihre obligatorischen Gruppenbilder nach dem Prinzip der Orgelpfeifen. Der Bürgermeister in der Mitte, und aus dem Saal kommt dann die Regieanweisung: „Karl, mach net so`e Brutsch, dau kimmst in de Zeidung!“ Doch ist es gerade diese „Brutsch“ im Gesicht des Bürgermeisters, auf die es im Bild des wirklichen Lebens ankommt. Aber Lokaljournalismus funktioniert nun mal anders, erst recht dann, wenn Wahlen ins Haus stehen.

Blick hinter die Kulissen der bebilderten Welt
Mit dem Eintritt in das Rentenalter habe ich das Zeitungsgeschäft vor einigen Jahren aufgegeben, nicht aber die Fotografie. Sie ist und bleibt für mich der Versuch, hinter den Kulissen der bebilderten Welt, die uns täglich als Augenpulver millionenfach über alle Medien gepustet wird, ein Schäufelchen Licht zu werfen. Das Foto von einer dunklen Ecke am U-Bahnschacht mit kauerndem Obdachlosen oder die Pizza fressende Taube in winterlichen Dampfschlieren eines Gullys ist mir wertvoller als der romantische Sonnenuntergang auf Sylt oder der kleinbürgerliche Blick vom Balkon des Feriendomizils über den Gardasee. Kunstphilosophische Fragen haben mich dagegen nie interessiert, wohl aber das zeitgeschichtliche Dokument eines Augen-Blickes. Natürlich hatte ich in all diesen Jahren Fotobücher studiert, Kniffs und Tricks mir angeeignet. Aber bei aller Theorie stand die Praxis daneben und das zusätzliche Problem des Zeitdruckes im Tagesgeschäft der Redaktionen. Es war ein Fotografieren gegen die Uhr im täglichen Zwang zur Aktualität.

Hinschauen!
Meine Erfahrungen konnte ich zum Teil an meinen Sohn weitergeben, der in der digitalen Fotografie neue Bild- und Designkonzepte entwickelt. Wenn ich ihm den alten, schwarzen Wechselsack zeige und versuche, ihm das Handwerk des Einlegens eines Ilford-Filmes in die Spiralen einer Entwicklerdose mit Rodinalpansche zu erklären, erhalte ich ein müdes Lächeln. Sein Fotolabor heißt Photoshop. Mein Handwerkzeug vergleicht er mit einem Museum, wenn auch neugierig. Denn noch immer fotografieren wir mit nichts anderem als mit Licht und Linse, wenn auch längst in anderen zerlegbaren Dimensionen und Spektren der Laser- und InfrarotTechnik moderner Handys und Smartphones. Was bleibt, ist das Bild, das wir von uns machen sollen. Egal ob als antiker Steinmetz, mittelalterlicher Kupferstecher, neuzeitlicher Fotolaborant oder künftiger Pixel-Knecht. Offen bleibt indessen die politische Herausforderung, wer wem das Sehen wann und wie erlaubt – oder mal wieder nicht. Betrachte ich mir heute die Nazi-Angriffe gegen Fotografen, Kameraleute und Reporter, dann ist mehr denn je wieder das Hinschauen gefragt, das durch moderne Bildtechniken und schnelle, digitale Verdichtungen der Verbreitungsräume nicht ersetzt werden kann.

Kurt Werner Säng
er

Diesen Beitrag teilen