Fotoreise 2022 ins Hanauerland

„Was? Du fährst von Frankfurt aus ins Hanauer Land und willst dort zwei Nächte übernachten? Das ist doch nur zwanzig Kilometer entfernt, da kannst du locker jeden Abend nach Hause fahren.“ „Nein, ist nicht.“ Gisela, Reiseteilnehmerin unserer diesjährigen Fotoreise, brauchte einige Zeit zur Überzeugung, denn die Antwort wurzelt im ausgehenden Mittelalter. Erbe des früh verstorbenen Graf Reinhard III. von Hanau war sein vierjähriger Sohn Philipp I. der Jüngere. Aus Sorge um den Fortbestand der Familiendynastie wurde ein Teil der Grafschaft dem Bruder des Verstorbenen, Philipp I. dem Älteren, zugesprochen. Das ermöglichte ihm durch Heirat und Zeugen erbberechtigter Nachkommen den Fortbestand der gräflichen Familie. Nun musste nur noch eine adelige Ehefrau für ihn gefunden werden. 1458 heiratete er Anna von Lichtenberg aus der gleichnamigen Grafschaft im nördlichen Elsass. Als 1480 der letzte männliche Vertreter der Herrschaft Lichtenberg verstarb, entstand die Grafschaft Hanau Lichtenberg mit Landbesitz in Hessen, im Elsass, in Baden und der Pfalz. Residenzstadt der Grafen von Lichtenberg war Bouxwiller. Noch heute trägt die Verwaltungseinheit von 19 Gemeinden rund um die Stadt Bouxwiller die Bezeichnung Pays de Hanau, Hanauerland. Dorthin führte uns die diesjährige Fotoreise.

Die Fotoreise 2022 führte ins Pays de HANAU
Die Fotoreise 2022 führte ins Pays de HANAU

Am Freitagnachmittag treffen wir Laure Lickel vor dem Musée du Pays de Hanau, dem Museum Hanauerland. Mit vielen Informationen und dem Blick aufs Detail führt sie uns durch das pittoreske Stadtzentrum, immer interpretiert in ihrem typisch elsässischen Dialekt. Altes Fachwerk mit mannigfaltigen Verzierungen dominiert die Straßen und Plätze. Die Straßennamen sind auf Französisch und Elsässisch, und an so manchem Geschäft stoßen wir auf den Namen Hanau. Über hundert Jahre brachte die chemische Industrie Reichtum in die Stadt. Das Bouxwiller Blau, ein Pigment für Maler, wurde weltweit gehandelt. Am Ende der Grand Rue steht die Hexestub, ein kleines Restaurant. Der nahegelegene Bastberg, die höchste Erhebung im Hanauerland, galt im Mittelalter als Versammlungsort der Hexen. Da wundert es nicht, dass unliebsame Frauen als Hexen gebrandmarkt und verbrannt wurden. Siebzehn waren es im Laufe der Jahrhunderte. Der Aberglaube führte auch zu obskuren Riten, wie die Einmauerung von zwei lebenden siamesischen Katzen in der Grundmauer des Rathauses, um böse Geister fernzuhalten. Die Mumien der beiden Katzen wurden vor kurzem gefunden und sind jetzt im Museum ausgestellt. Der Rundgang dauert länger als geplant, da die alte Residenzstadt voller schöner Fotomotive ist. Vor dem Museum, das den Abschluss der Führung darstellt, steht eine große Scheibe, auf der ein Mann hängt. Dieser heißt im Volksmund Plattenschlecker. Die Bediensteten des Grafen durften nach den opulenten Gelagen der Grafen die Reste von den Tellern futtern. Heute ist Plattenschlecker der Spitzname für die Einwohner von Bouxwiller.

Der Samstagmorgen führt uns nach Saverne, eine kleine Stadt mit gut 11.000 Einwohnern, das am Übergang zwischen den Vogesen und dem Biosphärenreservat Pfälzerwald-Vosges du Nord liegt. Die nur vier Kilometer breite Zaberner Steige war seit Jahrtausenden strategisch wichtig, denn sie liegt am Übergang zwischen dem Rheintal und der lothringischen Becken. Kein Wunder, dass Saverne (Zabern) oft umkämpft war und häufig seinen Besitzer wechselte. Am Ufer des Rhein-Marne-Kanals steht das Rohan-Schloss mit einer prächtigen einhundertfünfundvierzig Meter langen Fassade, die schon Goethe begeisterte. In einem der Flügel ist heute eine Jugendherberge untergebracht. Wir schlendern durch die Straßen und Gassen und stoßen dabei auf Historisches und auf fotogene Gebäude. Besonders das Maison Katz hebt sich mit seinen Schnitzereien am Fachwerk besonders hervor. Tafeln weisen auf die Zabern-Affäre hin, welche im Jahr 1913 zu einer Verfassungskrise im Deutschen Reich geführt hat. Ende Oktober hatte sich der 20-jährige Leutnant Günter Freiherr von Forstner in abfälliger Weise über die Einwohner geäußert. Er nannte sie unter anderem Wackes. Dies führte zu öffentlichen Protesten und einer weiteren Eskalation, was schließlich zu der Verfassungskrise führte.

Von Saverne geht es um die Mittagszeit weiter nach La Petite Pierre in den Nordvogesen. Übersetzt heißt dieser Ort „der kleine Stein“. Doch ganz so klein ist der Sandsteinfelsen nicht, auf dem die Burg Lützelstein thront. Die Burgmauern stehen auf einer Felswand, die nach drei Seiten tief ins Tal abfällt. Von der Burg aus schauen wir tief in die Schlucht und auf die ausgedehnten Wälder der nördlichen Vogesen. Hinter der Festungsanlage aus dem 12. Jahrhundert liegt der kleine Ort, Staedtel oder auch Staedele genannt. Hört sich nicht nur wie das Frankfurter Museum an, sondern wirkt auch museal. Im Restaurant Les Vosges gibt uns die Kellnerin noch einen Gruß an Roger mit, den wir als Nächstes besuchen werden. „Von der Großen“, meinte sie, als wir nach dem Grund des Grußes fragten, „Er wisse es schon.“

Es klappert die Mühle am rauschenden Bach. Das Mühlrad klappert tatsächlich und treibt die Wassermühle an der Saar an. Viele Dutzend solcher Mühlen gab es früher entlang des Oberlaufs des kleinen Flüsschens, die Mühle von Willer ist als letzte übriggeblieben, weil der Müller, Roger Roeser, sie hegt und pflegt und so lange weiter am Laufen hält, wie er noch kann. Seit siebenundvierzig Jahren übt er seinen Beruf hier aus. 67 Jahre ist er nun alt, wie er uns sagt und fühlt sich noch lange nicht im Rentenalter. 1532 wurde die Mühle gebaut, die heutige Einrichtung stammt aus dem Jahr 1921.  Vier Stockwerke ist die Mühle hoch, über alte Holztreppen erreichen wir alle Etagen, vom Erdgeschoss, in der das Königsrad die Wasserkraft auf den Treibriemen überträgt, der wiederum das Walzwerk im ersten Stock und viele andere Maschinen zum Laufen bringt. Im zweiten Stock wird das Mehl, das in der obersten Etage von der Kleie getrennt wird, abgesackt. Immer wieder nimmt der Müller einen Lappen zur Hand und wischt Staub von Maschinenteilen. Uns fällt auf, wie sauber die ganze Mühle ist. 350 Tonnen produziert er jedes Jahr, verglichen mit den heutigen Großmühlen ist das nicht viel. Roger Roeser verkauft sein Mehl auch nur regional. Am Wochenende ist nebenan eine kleine Gaststube geöffnet. Dort gibt es Flammekuchen, natürlich gebacken aus dem Mehl der eigenen Mühle. Mit leckerem Flammekuchen lassen wir den Tag ausklingen.

Pünktlich um 10:00 Uhr empfängt uns Michel Levy vor der Synagoge von Ingwiller. Im Hanauerland lebten früher viele Menschen jüdischen Glaubens. In Ingwiller waren zeitweise bis zu fünfzig Prozent der Einwohner Juden. Herr Levy zeigt uns stolz den Feigenbaum im Hof der Synagoge. Darunter eine Tafel mit den Symbolen der Juden, der Katholiken, der Protestanten und der Muslime. Er erzählt uns, dass es auf eine Initiative der vier religiösen Gemeinden in Ingwiller zurückgeht, von denen jede einen Baum gepflanzt und mit einer Tafel versehen hat. Danach betreten wir die Wintersynagoge. Es ist ein kleiner Raum im Nebengebäude, der im Winter benutzt wurde, um Heizkosten zu sparen. An der Stirnwand ist die Klagemauer aufgemalt, davor steht ein Baumgerippe mit vielen Fotos. Es sind die im Zweiten Weltkrieg deportierten Mitglieder der jüdischen Gemeinde, für die vor kurzem Stolpersteine zur Erinnerung gesetzt wurden. Im großen Saal der Synagoge schiebt Michel Levy einen Vorhang zur Seite. Dahinter sind acht Thorarollen aufbewahrt. Eine weitere ist im Raum der Wintersynagoge. Die älteste stammt aus dem Jahr 1733. Dass sie nicht den Nationalsozialisten in die Hände gefallen ist, verdankt die jüdische Gemeinde dem damaligen evangelischen Pfarrer. Er hat die Thorarollen heimlich beiseite geschafft und nach dem Krieg wieder zurückgegeben. An der alten Thorarolle, die in sein Mapa eingebunden ist, erklärt er uns den Inhalt und den Umgang damit. Zum Abschluss der spannenden Führung zeigt er uns auf der Hauptstraße noch die Stolpersteine, die an seine Großeltern erinnern. Mit einem großen Dankeschön verabschieden wir uns und wünschen ihm ein schönes Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest.

Die Burg Lichtenberg ist die letzte Station unserer diesjährigen Fotoreise. Bereits im Jahr 1206 hat die Burganlage auf dem massiven Sandsteinfelsen bestanden. Die Renovierungsarbeiten, die schon zwei Jahrzehnte dauern, nähern sich dem Ende. Vom Turm der Burg reicht der Blick weit in die nördlichen Vogesen und das Hanauerland hinein. Zu Füßen der Burg liegt die kleine Ortschaft Lichtenberg. Dort beenden wir bei einem gemeinsamen Mittagessen unsere diesjährige Fotoreise.

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